“Ich bin keine Berggeiss”

Seit Anfang Jahr ist Elena Hartmann Markenbotschafterin der Bank WIR. Die Schweizer Meisterin im Zeitfahren unterstreicht damit – zusammen mit Franco Marvulli – den Auftritt der Bank als Premium Partner der Tour de Suisse.

Welches Talent in ihr schlummert, realisierte Elena Hartmann erst spät. Als 30-Jährige holte sie sich 2021 den 5. Platz an den Schweizer Meisterschaften im Zeitfahren und ein Jahr später den Meistertitel, den sie bis heute nicht aus der Hand gegeben hat. Die Meisterschaft dieser «einsamen» und mental sowie physisch extrem fordernden Disziplin ist in Strassenrennen wie der Tour de Suisse Vorteil und Nachteil zugleich: Es können zwar wertvolle Zeitvorsprünge herausgefahren werden, aber im Feld zählen auch Eigenschaften, die sich eine Spätzünderin erst noch aneignen muss. Auch der Berg fordert die gross gewachsene Elena Hartmann, deren längerfristiges Ziel die Teilnahme an den Olympischen Spielen 2028 ist.

Fotos: Henry Muchenberger

Wer Gelegenheit hatte, an den Herbstgesprächen 2024 der Bank WIR im KKL Luzern teilzunehmen, kennt auch eine andere Seite von Elena Hartmann: die der Sockensammlerin. Wie entscheidend die richtige Socke in einem Rennen sein kann, verrät Elena Hartmann im Interview, das am 21. Januar geführt wurde.

Welche Farbe haben deine Socken gerade?
Elena Hartmann: Ich befinde mich mit dem Nationalteam noch bis zum 24. Januar in einem Trainingscamp auf Gran Canaria – aber ich habe heute mehrheitlich frei und trage ein bunt gemustertes Paar Freizeitsocken.

Du hast eine Sammelleidenschaft für Socken entwickelt und besitzt mehrere Hundert Paar – hast du schon einen Sockensponsor?
Einen Sockensponsor habe ich leider keinen (lacht). Meine Alltagssocken befinden sich in Schubladen unter dem Bett. Vor der Abreise ins Lager verspürte ich das Bedürfnis auszumisten und habe es tatsächlich übers Herz gebracht, sieben Paar Socken zu entsorgen. Darunter sogar drei, die ich ganz zu Beginn meines Sammelfiebers gekauft habe. Das tat ein bisschen weh – mit jeder Socke verbindet sich eine Erinnerung –, aber sie waren wirklich durch.

Hast du eine Glückssocke für Rennen?
In den Trainings und an Rennen trage ich normale Sportsocken, speziell sind aber die Aerosocken fürs Zeitfahren. Sie werden über den Radschuhen getragen und weisen eine Struktur mit Längsstreifen auf. Diese Beschaffenheit macht sie aerodynamischer. Das ist im Zeitfahren wichtig, da jeder eingesparte Sekundenbruchteil zählt.

Du bist neue Markenbotschafterin der Bank WIR. Nach welchen Kriterien wählst du deine Sponsoren und Unterstützer aus?
Die Bank WIR ist mein erster Sponsor! Die Vorgeschichte dazu ist schnell erzählt: Weil die Bank ja Premium Partner der Tour de Suisse ist, wurde ich als eine der Tour-Teilnehmerinnen angefragt, an den letztjährigen Herbstgesprächen der Bank im KKL Luzern aufzutreten. Ich lernte mehrere Leute aus dem Management und die ganze Geschäftsleitung kennen; ein cooles, junges, dynamisches Team. Dabei habe ich mich sofort wohlgefühlt, es kam eine «connection» zustande – und genau das ist mir das Wichtigste: Mit Leuten zusammenarbeiten zu können, die menschlich sind, deren  Persönlichkeit ich mag und die sich auf derselben Wellenlänge befinden.

Gehört es zu deinen Zielen, mehr Sponsoren zu finden?
Ja, ich möchte diesbezüglich Gas geben und habe jetzt ein Management, das mir bei der Sponsorensuche behilflich ist. Selbst auf einen grünen Zweig zu kommen, ist schwierig. Firmen einfach anzuschreiben, bringt erfahrungsgemäss nichts. Es fehlt der persönliche Kontakt, und die Konkurrenz ist riesig – man ist ja nicht die einzige, die auf Sponsorensuche ist…
Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Teamtrikots mit Sponsorenlogos der Teams besetzt sind. Findet man einen persönlichen Sponsor, kann man ihm wahrscheinlich nicht die Werbefläche bieten, die er gerne hätte.

Du bist Kantonspolizistin und arbeitest 20% bei der Kapo Zürich. Hast du weitere Einnahmequellen?
Wenn man Teil eines Teams der UCI WorldTour ist, erhält man seit Kurzem einen Mindestlohn. Dieser ist einigermassen okay, wenn man in Italien oder Spanien lebt. Für Schweizer Verhältnisse ist er aber extrem knapp bemessen. Da ich noch keine Topfahrerin bin, die einen Haufen Preisgelder und Boni einsammelt, konnte ich mich bisher gerade so über Wasser halten.

Es gibt etliche Polizeikorps – auch im Kanton Zürich –, die Bike-Patrouillen einsetzen. Wärst du nicht auch dafür prädestiniert?
Ich bin so viel auf dem Velo, dass ich eigentlich ganz froh bin, im Beruf eine «Auszeit» zu bekommen. Die Kapo Zürich unterhält eine Bike-Patrouille am Flughafen. In meinem zweiten Ausbildungsjahr war ich auch mit dieser Patrouille unterwegs. Ihr Vorteil: Auf dem Velo ist man besser ansprechbar und damit näher bei der Bevölkerung, und es fallen einem eher Dinge auf, die sicherheitsrelevant sein können. Heute bin ich im Verkehrszug Urdorf eingeteilt, dessen Einzugsgebiet von Dietikon südwärts bis an die Grenze zum Kanton Zug reicht. Mit dem Velo käme man da nirgends hin.

Auf welche Rennen trainierst du vor der diesjährigen Tour de Suisse?
Jetzt im Januar kann ich dazu noch nicht viel sagen. Die Tour de Suisse Women beinhaltet immer auch ein Zeitfahren, das für mich als Zeitfahrspezialistin das Highlight darstellt. Aber vor der Tour de Suisse im Juni wird es sehr wenig World-Tour-Rennen mit Zeitfahren geben. Deshalb werde ich national oder regional nach solchen Rennen Ausschau halten, um Strategien und Settings am Velo für das Zeitfahren an der Tour de Suisse auszuprobieren. Es kommt hinzu, dass ich das Team Roland verlassen habe und meine Agentur auf der Suche nach einem neuen Team ist.

Elena Hartmann im Schweizer Meisterinnen Trikot an der Tour de Suisse 2024

Elena Hartmann im Zeitfahrmodus während der Tour de Suisse Women 2024 (Foto: Sam Buchli)

An der Tour de Suisse 2024 haben zwei Fahrerinnen deines vierköpfigen Roland-Teams aufgegeben. Ist das mit ein Grund, weshalb du einen Teamwechsel planst?
Wenn man am Schluss nur noch zu zweit fährt, ist das schon eine psychische Herausforderung, und es führt zu taktischen Einschränkungen: Führungsarbeit leisten oder auf Angriffe reagieren ist dann kaum noch möglich. Man muss mit den Ressourcen schonender umgehen, was Auswirkungen auf das Rennverhalten hat. Der Grund für den Wechsel ist ein anderer. Ich sah im Team Roland keine Zukunft für meine Weiterentwicklung. Das Team war ideal für die ersten Schritte und um Erfahrungen zu sammeln: Wie läuft ein Rennen ab, wie fühlt es sich an, ein World-Tour-Rennen zu fahren? Aber es fand dann nicht die Förderung statt, die ich gerne hätte. Ich bin jetzt 34 Jahre alt und muss in den kommenden Jahren Gas geben können!

Die diesjährige Tour de Suisse startet erstmals mit den Rennen der Frauen. Die Veranstalter wollen damit mehr Aufmerksamkeit für die Frauen generieren. Haben die Frauen noch nicht die Sichtbarkeit, die sie verdienen?
Es hat sich in den letzten Jahren viel getan, man kann z. B. online jedes Rennen der Frauen mitverfolgen. Das, was Tour-Direktor Olivier Senn plant, ist genau der richtige Schritt. Wir Frauen trainieren gleich viel wie die Männer und gehen dieselben Risiken ein. Wenn wir nun unseren eigenen Auftritt haben und die Tour de Suisse eröffnen dürfen und man uns während vier Tagen die ganze Aufmerksamkeit gibt, ist das schon toll. Ich kenne übrigens viele Leute, die finden, dass Frauenrennen spannender seien als Männerrennen. Ich selbst kann das schlecht beurteilen, weil ich ja mittendrin bin und kaum Männerrennen schaue. Aber es heisst, es passiere mehr während Frauenrennen. Ich führe das darauf zurück, dass bei den Männern die Geschwindigkeit und lange, anspruchsvolle Strecken im Vordergrund stehen. Sie sind halt von den physiologischen Voraussetzungen her anders aufgestellt. Deshalb sind Männer z. B. während der Tour de France während drei Wochen unterwegs, während die Frauen nur acht Etappen absolvieren.

Die Tour de Suisse Women endet am 15. Juni in Küssnacht, wo anschliessend die Männer starten. Hast du diese Gegend bereits mit dem Velo erkundet?
Ich wohne in Baar, der Zugersee und seine Umgebung ist mein tägliches Trainingsgebiet. Und in Küssnacht kenne ich fast jedes Strässchen. Das ist ein Riesenvorteil. Ich freue mich darauf, die Gegend in den anstehenden Trainings noch intensiver zu erkunden.

«Radsport ist eine Risikosportart,
aber die Leidenschaft überwiegt.»

Die letzte Tour de Suisse und die Weltmeisterschaften in Zürich waren von den tödlichen Unfällen Gino Mäders und Muriel Furrers überschattet. Haben
solch tragische Ereignisse einen Einfluss auf deinen Fahrstil? Fährt man automatisch vorsichtiger?
Solche Unfälle hinterlassen natürlich Spuren, und die eigene Gesundheit erhält dann höchste Priorität. An der WM in Zürich sind wir im Strassenrennen mehrfach an der Unfallstelle Muriels vorbeigefahren, das gab jedes Mal Hühnerhaut. Durch die Trainings- und Rennintensität des Alltags rücken solche Ereignisse dann wieder in den Hintergrund und die Risikobereitschaft steigt wieder. Wobei ich vermute, dass ich mit meinen 34 Jahren weniger risikobereit bin als eine 20-Jährige, die eine Abfahrt aggressiver in Angriff nimmt. Der Radsport ist und bleibt eine Risikosportart – aber die Leidenschaft überwiegt trotzdem.

Hast du ein Vorbild?
Weniger eine bestimmte Person, mehr die Art und Weise, wie Leute bestimmte Ereignisse in ihrem Leben gemeistert haben oder ihre Einstellung zu gewissen Fragen. Ich möchte gerne mein eigenes Vorbild sein und arbeite sehr stark an meiner eigenen Persönlichkeit, an meiner Einstellung. Ich versuche, ausgeglichener zu sein, Dinge einfacher und weniger persönlich zu nehmen. Ich sehe schon Fortschritte, was mich stolz macht.

Letztes Jahr hat Elise Chabbey den Bergpreis gewonnen und damit das von der Bank WIR präsentierte Bergpreistrikot ergattert. Es heisst, grosse, schwere Athleten und Athletinnen hätten eher Mühe am Berg. Nun bist du mit 178 cm gross, aber mit 58 kg Renngewicht leicht. Wie siehst du deine Chancen, mit Elise am Berg zu konkurrieren?
Es kommt darauf an, wie steil eine Strecke ist. Bis zu einer Steigung von 4–6% kann ich stark sein, das ist der Zeitfahrmodus, wo ich voll in die Pedale gehen kann. Ab 10–20% wird es schwierig, dann sind leichtere Fahrerinnen im Vorteil. Elise machte es letztes Jahr genau richtig: Sie hat ihre Stärke eingesetzt – den extrem starken Angriff, den sie bis zu 5 Minuten lang durchhalten kann – und hat attackiert. Da können nur wenige mithalten, und wenn sie dann mal weg ist, ist sie schwer einholbar. Ich habe letztes Jahr versucht, auf ihren Angriff zu reagieren, musste sie aber davonziehen lassen. Zusammengefasst: Ich bin nicht ganz schlecht am Berg, aber sicher keine «Berggeiss» (lacht).

Auf welchen Gebieten möchtest du dich verbessern? Wo siehst du das höchste Steigerungspotenzial? Als Zeitfahrerin war es ja beispielsweise für dich eine neue Erfahrung, in Strassenrennen in einem Pulk zu fahren, wo man auch mal die Ellbogen ausfahren muss.
Ich muss lernen, zwei Persönlichkeiten zu haben: die Elena, die keine Rennen fährt und nett ist, und eine Elena, die auf dem Velo ein Rennen gewinnen oder ein gutes Resultat herausfahren will. Da kann man nicht nett sein. So banal das tönt: Das ist tatsächlich eine Herausforderung, an der ich arbeiten muss.
Ausserdem würde ich gerne mit Elise mithalten können. Ich bin sehr konkurrenzfähig ab 20 Minuten, d. h. ich kann während längerer Zeit einen hohen «pace» fahren, was natürlich fürs Zeitfahren ideal ist. Aber die kurze, intensive «1–5-Minuten-Power» – Elises Talent – muss ich trainieren. Kaum ausbaubar ist eine weitere Schwäche, der 5-Sekunden-Sprint. Mir fehlen dazu die nötigen speziellen Muskelfasern. Ich werde also kaum jemals ein Sprintduell für mich entscheiden können.

Die Bündnerin Elena Hartmann (34) hat ihren Bewegungsdrang schon als Kind in verschiedenen Sportarten ausgelebt. Mit 25 Jahren begann sie, Triathlon zu betreiben, wobei sie sich auf dem Velo am wohlsten fühlte. Dies führte dazu, dass sie an Zeitfahrrennen teilnahm und 2022 – für alle überraschend – die Schweizer Einzelzeitfahrmeisterschaften für sich entscheiden konnte. Ein Erfolg, den Elena Hartmann auch in den beiden folgenden Jahren, nunmehr als Profi, für sich verbuchen konnte.

Königsdisziplin
Das Zeitfahren gilt als Königsdisziplin im Radsport. Nirgends sonst ist das Zusammenspiel von physischer, mentaler, taktischer und technischer Vorbereitung für ein gutes Resultat so entscheidend. Kommt hinzu, dass Zeitfahren ein Element fast aller Rundfahrten sind und für den Gesamtsieg bestimmend sein können. Dies gilt vor allem dann, wenn sie über längere Strecken führen, die es erlauben grössere Zeitabstände zwischen sich und die Konkurrenz zu bringen. Zeitfahrer sind allein unterwegs, kämpfen aber trotzdem gegen einen omnipräsenten Gegner: den Luftwiderstand. Kleidung, Helm und Scheibenrad müssen deshalb ebenso windschlüpfrig sein wie die Sitzposition. Ein spezieller Zeitfahrlenker erlaubt es, Arme und Hände vor den Oberkörper zu bringen und die Angriffsfläche der Luft zu minimieren.

Dem Bestreben, das «System Mensch und Velo» zu optimieren, setzen diverse Vorschriften der Union Cycliste Internationale UCI gewisse Grenzen. Sie reichen von der Länge der aerodynamischen Socken bis zur Sitzposition oder dem Abstand, der ein Begleitfahrzeug zum Fahrer oder zur Fahrerin haben darf. Seit zwei Jahren beträgt er 25 Meter, denn die früher erlaubten 10 Meter pressen die Luft zwischen dem Auto und dem Velo zu stark gegen Letzteres und verleihen ihm unerwünschten Schub. Auf die Anweisungen, Informationen und Anfeuerungen aus dem Begleitfahrzeug können Fahrerinnen und Fahrer keine Rückmeldung geben. «Wird es einem zu viel, wäre die einzige Möglichkeit, den ‹Stöpsel› aus dem Ohr zu nehmen», so Elena Hartmann, die in der Regel aber volles Vertrauen in die motorisierten Unterstützer hat. Zu ihren Erfolgen zählt Elena Hartmann den Sieg an der Tour de Berlin Feminin 2023 und den Vize-Schweizermeistertitel im Strassenrennen (hinter Marlen Reusser). 2024 gewann sie den Grand Prix Presidente in El Salvador und die Gesamtwertung der El-Salvador-Rundfahrt.

An was für Geräten trainierst du abgesehen vom Rennvelo?
Ausserhalb der Rennsaison bin ich zweimal pro Woche im Krafttraining. Das ist nicht nur für die Beine wichtig, sondern auch für den Rumpf, damit man stabil ist. Es beugt überdies Verletzungen vor. Zudem jogge ich gerne, weil es so unkompliziert ist. Man zieht die Schuhe an und ist ready. Velofahren ist halt immer eine Materialschlacht.

Wie viele Velos hat man eigentlich als Profifahrerin?
Das Team stellt drei Bikes zur Verfügung. Eines davon habe ich bei mir fürs Training, mit einem andern fahre ich die Rennen. Dann kommt noch ein Ersatzbike hinzu. Dasselbe gilt grundsätzlich für das Zeitfahrvelo, welches aerodynamischer konstruiert ist. In der Freizeit bin ich zudem mit einem der Mountainbikes meines Freunds unterwegs, der gleich gross ist wie ich. Über Stock und Stein zu fahren ist eine schöne Abwechslung, ich profitiere aber auch technisch davon.

«Es wäre cool, wenn ich für
Furore sorgen könnte.»

Hast du dir für die diesjährige Tour de Suisse ein bestimmtes Ziel gesetzt?
Vor allem jetzt, mit der Bank WIR an meiner Seite, wäre es cool, wenn ich für irgendeine Furore, für einen «buzz» sorgen könnte. Gelingen könnte dies in meiner Lieblingsdisziplin, dem Zeitfahren. Leider ist jetzt, im Januar, die Strecke noch nicht bekannt. Ich habe aber das Gefühl, vom Training her fitter als letztes Jahr um dieselbe Zeit zu sein und bin recht optimistisch.

Ein Höhepunkt deines Rennjahrs 2024 war sicher die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Paris, was auch dem gesundheitlich bedingten Ausfall von Marlen Reusser geschuldet war. Sind die Olympischen Spiele 2028 in Los Angeles schon eingeplant?
Ja, ich bin voll motiviert und glaube nicht, dass diese Euphorie in naher Zukunft abflacht. Die Teilnahme an den letztjährigen Olympischen Spielen kam unverhofft und ehrlich gesagt etwas zu früh – ich war physisch noch nicht an dem Punkt angelangt, an dem ich mich gerne gesehen hätte. Für Los Angeles bleibt mehr Zeit für die Vorbereitung.

Foto: Arne Mill

Elena Hartmann an den Olympischen Spielen 2024 in Paris. (Foto: Arne Mill)

Wie Marlen Reusser bist du eine Spätzünderin. Bedauerst du es, nicht schon früher voll aufs Velo gesetzt zu haben?
Nein, ich sehe es eher umgekehrt: Es ist schön, dass ich das erleben darf. Ich bin so neu in diesem Sport und habe noch so viel Lust und Potenzial! Aber ich bin wohl eine der letzten, die noch so spät zum Rennsport findet und mithalten kann. Denn der Frauenradsport hat eine extreme Entwicklung durchgemacht. Bereits 16-Jährige sind hoch professionell unterwegs. Es geht nicht mehr lange, und man kann mit 30 nicht mehr Fuss fassen, weil das Niveau einfach zu hoch ist. Bei den Männern sieht man das noch deutlicher: Quereinsteiger gibt es praktisch keine, ausser vielleicht solche, die vom Mountainbike oder Radquer aufs Rennvelo umgesattelt haben – wenn man das Quereinsteiger nennen will. Folgendes kommt hinzu: Hätte ich als Teenager mit dem Radsport begonnen, hätte ich vielleicht mit Mitte 20 schon wieder aufgehört. Andererseits muss ich mir gewisse Techniken jetzt eben relativ spät aneignen, z. B. wie man sich in einem Fahrerinnenfeld taktisch geschickt verhält.

Was ist ein angemessenes Alter, um zu beginnen ernsthaft zu trainieren?
Ich denke, wenn ein Kind in der Primarschule ist. Dann fährt man die ersten Kids-Rennen, wo es nicht nur ums Gewinnen, sondern vor allem auch um den Spass geht. In diesem Alter lernt man am einfachsten die nötigen Techniken. Je älter man wird, desto schwieriger wird alles, und man stellt sich Fragen wie «Kann ich das?» oder «Ist das nicht gefährlich?» Ein Kind ist unvoreingenommener. Wie gesagt: die Frage bleibt, ob das Feuer der Leidenschaft lange genug brennt, damit es einmal bis ganz nach vorne reicht. Aber zu spät ist es fast nie. Mit der richtigen Motivation und viel Willen kann man es auch später noch schaffen – dafür bin ich ein gutes Beispiel …

Du bist 34 Jahre alt – trotz aller Motivation: Denkst du auch über den Rücktritt vom Rennsport nach?
Wenn diese Frage auftaucht, denke ich immer an eines meiner ersten Strassenrennen, die WM 2022 in Australien. Bei den Frauen trug Annemiek van Vleuten den Sieg davon – sie war damals 40 Jahre alt! Ein Jahr später erklärte sie ihren Rücktritt. Sie ist der Beweis, dass man mindestens bis 40 mit der Weltspitze mithalten kann – vorausgesetzt, man bleibt gesund.

● Interview: Daniel Flury